Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung

Pekka Ervast, Kalevalan avain, Übersetzung
Väinämöinen und Aino

Donnerstag, 1. Januar 2015

Teil 2



11. LEMMINKÄINEN ‒ CHRISTUS


Für einen Christen mag es beinahe wie Gotteslästerung klingen, wenn der alte heidnische Liebesabenteurer, der finnische Don Juan, mit der Majestätigkeit des heiligen und reinen Christus verglichen wird. Es sei dem so! Wir wollen auch nicht behaupten, dass die Kalevala das Mysterium der göttlichen Liebe in der Menschenseele so erhaben und schön wie das Neue Testament dargelegt hätte. Die Weisheit der Kalevala stammt aus einer anderen Zeit als die des Neuen Testaments; ihre äußere Ausdrucksform ist natürlich eine andere. Wir wollen nur betonen, dass die Weisheit der Kalevala in ihrem Kern dieselbe ist und die gleichen Tatsachen über die Entwicklung und das Ziel der Menschenseele wie z.B. das Neue Testament kannte. Sie beschreibt und beurteilt das Gefühlsleben und was damit zusammenhängt auf ihre eigene Weise; sie bewundert eher die Tätigkeit der Vernunft und der Weisheit, weiß aber, dass das Gefühl an sich die größte magische Kraft ist, die die Menschenseele wiedergeboren werden lässt. Als ein rührendes und erhabenes Beispiel dafür sehen wir die aufopfernde, strahlende Liebe der Mutter des Lemminkäinen, die auch den Tod besiegt!
Dieser Widerspruch zwischen der Erhabenheit des Christus und der scheinbaren Alltäglichkeit des Lemminkäinen ist auch leicht zu erklären, wenn wir daran denken, dass mit Christus nur das Endziel, die letzte Entwicklungsstufe der Gefühlskräfte beschrieben wurde, während mit Lemminkäinen deren gesamte Entwicklung dargestellt wird, vor allem auch die früheren Stadien, ohne jedoch das noch unerreichte Ziel zu vergessen. Die Kalevala selbst führt uns dazu, in Lemminkäinen auch eine Parallele zu Christus zu suchen.
Gerade die wichtige Rolle der Mutter des Lemminkäinen als lebender Mensch beweist wiederum, dass Lemminkäinen in der göttlichen Erlösungsarbeit der zweiten Person der Dreiheit, dem Sohn, entspricht. Die Mutter des Väinämöinen als ein menschliches Wesen erscheint in der Kalevala überhaupt nicht, und die Mutter des Ilmarinen wird nur als eine Nebenperson dargestellt. Doch in jeder alten Weisheitstradition spielt die Mutter des Heilands als lebende Person eine wichtige Rolle: die Mutter des Christus (Maria), die Mutter des Buddha (Maya), die Mutter des Krishna (Devaki) usw. ‒ die Übereinstimmung mit Lemminkäinen ist also offensichtlich.[1]
Lemminkäinen ist auch der einzige unter den drei Haupthelden der Kalevala, von dessen Tod berichtet wird. Außerdem erscheint er in den Todesrunen mit den Parallelnamen der Sohn des Kaleva, der arme Knabe, was dem Sohn Gottes, dem Sohn des Logos, entspricht. In den alten Traditionen wird auch jeder Heiland getötet und kommt in die Unterwelt. Julius Krohn hat auf die merkwürdige Übereinstimmung zwischen der skandinavischen Balder-Sage und der Lemminkäinen-Sage hingewiesen. Balder, der Sohn des Obergottes Odin, ist der Gott des Lichtes, und der böse Loki verführt den blinden Hödur, indem er dessen Hand lenkt, Balder zu erschießen. Balder kommt zu Hel in die Unterwelt und ersteht nach 40 Tagen wieder auf, obwohl seine Mutter nicht in der Lage ist, ihn zu retten. In diesem Punkt weicht also die Balder-Sage von der Lemminkäinen-Rune ab. Kaarle Krohn stellt die Übereinstimmung dieser Sagen fest, die aber seiner Meinung nach daher rührt, dass beide Legenden christlichen Ursprungs seien. Als historisch ursprünglich hält er wohl die Erzählung über Jesus, der getötet wird, in die Unterwelt geht und am dritten Tag aus den Toten aufersteht.[2]  
In dieser Schlussfolgerung irrt sich Prof. Krohn vollkommen. Dass er die heidnischen Übereinstimmungen mit der Christus-Legende nur mit dem Hinweis auf die Balder-Sage ablehnt, ist ein Beweis für seine mangelnde Sachkenntnis, denn die Balder-Sage ist nur ein Beispiel unter vielen anderen. Selbst wenn sie aufgrund mittelalterlicher Schriften als eine Legende christlichen Ursprungs erklärt werden könnte – was sachlich sehr unwahrscheinlich ist – lassen sich nachweisbar ältere Legenden, die griechischen, die ägyptischen usw., unmöglich auf diese Weise erklären.
Nehmen wir ein paar Beispiele: Krishna, der althinduistische Heiland, starb durch den Pfeil eines Jägers, als er, in Meditation versunken, unter einem Baum saß. Das erzählt das alte Buch Bhagavata-Purana, und seit dem Tod Krischnas sind nach der Berechnung der Hindus fünftausend Jahre vergangen. Nach seinem Tod ging Krishna in die Unterwelt und erstand wieder auf. In einem ägyptischen Mythos wird Osiris von seinem Feind Typhon, der Schlange des Bösen, getötet. Osiris ersteht jedoch als Horus auf und tötet nun seinerseits Typhon. Osiris wird nun zum „Herren des Lebens nach dem Tod“ und „Richter aller Seelen“.[3] So wurde auch Jesus bei seinem Kampf gegen das Böse getötet, besiegte aber als Auferstandener die „alte Schlange“; und in der Offenbarung (1: 18) heißt es, dass er die „Schlüssel der Hölle und des Todes“ hat. Auch in der Apostelgeschichte (10: 42) wird behauptet, dass er „verordnet von Gott zum Richter der Lebendigen und der Toten” ist. Der babylonische Heiland-Gott Tammuz war nach seinem Tod drei Tage in der Unterwelt, erstand aber dann aus den Toten wieder auf. Zum Andenken an seinen Tod und seine Auferstehung wurde jährlich eine große Trauer- und Freudenfeier veranstaltet. Auf der letzteren soll der Priester gesagt haben: „Vertraut auf euren Herren, denn seine Leiden haben euch die Rettung gebracht.“ Eine babylonische Legende erzählt, wie die Göttin Ischtar, die Mutter des Tammuz, in die Unterwelt hinabstieg, um von dort Wasser des Lebens zu holen, womit sie ihren toten Sohn zum Leben erwecken könnte.
Der griechische Mythos von Bacchus (Zagreus/Dionysos) stimmt am ehesten mit der Lemminkäinen-Sage überein, denn, nachdem die Titanen Bacchus getötet hatten, wird er zerstückelt. Er schläft drei Tage in Hades, wird danach von Jupiter auferweckt und bekommt ein Herz von Pallas. Nach seiner Auferstehung steigt er in den Himmel auf. In einer Erzählung über Dionysos als Sohn der Demeter sammelt die Mutter die zerstückelten Körperteile ihres Sohnes und macht ihn wieder jung, also genau wie die Mutter des Lemminkäinen.
Diese Beispiele, denen wir noch u.a. syrische und mexikanische Mythen hinzufügen könnten, werden wohl reichen, um zu beweisen, dass die Auffassung über den Heiland, der getötet wird, in die Unterwelt hinabsteigt und wieder aufersteht, sehr alt und weit verbreitet ist. Die christliche Erzählung ist in diesem Punkt nur eine Kopie der „heidnischen“ Urformen. Der Versuch, den Ursprung der Lemminkäinen-Sage als christlich zu beweisen, ist also ganz unnötig und unsinnig; mit ebenso gutem Grund ‒ wenn nicht noch eher – kann man behaupten, dass sie griechischen oder ägyptischen Ursprungs ist. Und wenn es so ist, warum könnten wir nicht die Erzählung über den Tod des Lemminkäinen, die aufopfernde Liebe seiner Mutter und seine Auferstehung für ebenso „heilig“ und erhaben halten wie die entsprechende Erzählung über Jesus?
Psychologisch verstanden verbirgt sich auch in der Erzählung eine ganz klare Tatsache. Die zweite Person des Logos, der Sohn, mit anderen Worten die göttliche Gefühlskraft, die an sich eins und unteilbar ist, nämlich die Liebe, ist in der Menschheit gleichsam getötet und zerstückelt: Jeder einzelne Mensch besitzt einen Teil davon,[4] doch welch ein Zerrbild dieses Teilchens der göttlichen Gefühlskraft ist er doch oft! Aus der Liebe ist Selbstsucht, Hass gegen andere und allerlei Ausdrucksformen des Egoismus und der Bosheit geworden. Erst in einem „auferstandenen“, „neugeborenen“ Menschen hat die göttliche Liebe ihre ursprüngliche Kraft, ihre Reinheit und ihre Vollständigkeit wiedergewonnen und ist in der Lage, Lebende und Tote zu führen und über sie zu herrschen.
Diese „Auferstehung“ ist natürlich eine individuelle und also eine esoterische Sache. „Auferstanden“ – in psychologischer Bedeutung – sind lediglich die Weisen, die eine schwierige und langwierige Entwicklung durchgemacht haben. Die Menschheit als Ganzes steht noch fern vom Ziel und wird es auch niemals auf einmal erreichen. Einzeln, durch ihre eigenen Anstrengungen, erreichen die Individuen das Ende des Weges, und erst wenn jeder einzelne Mensch der heutigen Menschheit geistig wiedergeboren ist, kann man sagen, dass der göttliche Heiland, der Sohn Gottes, der in der Seele der Menschheit gekreuzigt ist, aus den Toten auferstanden und von seinem freiwilligen Leid befreit ist. Bis dahin wandert er wirklich im Reich des Todes und predigt in der Finsternis zu den gefangenen Seelen.


12. DIE ILMARINEN-KRÄFTE


Unter den Helden der Kalevala ist Ilmarinen derjenige, an dessen ursprüngliche Gottheit auch die Wissenschaftler glauben. Heute nennen die Votjaken [Udmurten] den christlichen Gott Inmar; dem Klang nach entspricht dieser Name dem Ilmari. Beide, sowohl Inmar als Ilmari, waren ursprünglich Götter der Luft.[5] In einer alten Beschwörungsformel der Seeleute betet man zu Ilmarinen um gute Winde[6], und in einem lappländischen Schamanentrommel erscheint der Name Ilmarinen als der Geist, der Stürme und raues Wetter bringen kann. Bei der Aufzählung der Götter der Region Häme sagt Mikael Agricola:

 „Ilmarinen Rauhan ia ilman tei
Ia matkamiehet edheswei.“

„Ilmarinen ruhige und rauhe Winde schuf,
Und führte Reisende zum Ziel.“

Die Kalevala erzählt von Ilmarinen: „Hat den Himmel schon geschmiedet, Hat der Lüfte Dach gehämmert.“ In der Feuerentstehungsrune schlägt er auch zusammen mit Väinämöinen Feuer:

Iski tulta Ilmarinen,
Välähytti Väinämöinen,
Sakarilla vaskisella,
Miekalla tuliterällä,
Päällä kuuen kirjokannen,
Päällä taivosen yheksän.

Feuer schlug nun Ilmarinen
Sprühte Flammen Väinämöinen
Aus des Schwertes Feuerschneide,
Aus der flammenreichen Klinge;
Eilet durch der Himmel Neunzahl,
Durch der Sternenzelte Sechszahl.
        [Alte Kalevala, 26., Neue Kalevala, 47. Rune]

Prof. Kaarle Krohn, der Lemminkäinen für eine ursprünglich historische Person hält, geht bei seinen Zugeständnissen in Bezug auf Ilmarinen so weit, dass er diesen in der Kalevala realistisch geschilderten Schmied lediglich als ein Allgemeinbild der breiten Massen Finnlands betrachtet. „Ilmarinen ist ein Typ“, sagt er, „oder ein poetischer Archetyp, was jeder Finne beweisen kann, und der, mehr als alle anderen finnischen Typen, auch einem Ausländer auffällt.“ Und, als würde Prof. Krohn dem Teufel der symbolischen Erklärungsweise den kleinen Finger geben, gibt er noch zu, dass Ilmarinen, so verstanden, „in einem viel höheren Sinne, historisch wahr ist als der Nachrum auch nur eines anderen Schmiedes, der in Finnland gelebt hat“.[7]
Es ist ganz richtig gesagt, dass Ilmarinen vor allem den finnischen Charakter darstellt. Er ist mürrisch und träge und ohne Unternehmungslust. Er ist etwas dumm und sieht, von außen betrachtet, kalt und gefühlsarm aus. Doch wenn ihn jemand zur Arbeit anstachelt, ist er sehr geschickt und gewissenhaft, und wenn er einmal in Schwung gekommen ist, ist er äußerst unternehmungslustig. Dass man ihn leicht um die Nase herumziehen kann, liegt eher an seiner kindhaften Grundehrlichkeit als an seiner Dummheit schlechthin. Mit Ilmarinen schildert die Kalevala jedoch den finnischen Charakter nur scheinbar. Wenn die Kalevala mit einem allgemeinmenschlichen oder kosmischen Schlüssel geöffnet wird, vertritt das finnische Volk natürlich die Menschheit im Allgemeinen. Deshalb vertritt auch Ilmarinen als Darstellung des finnischen Charakters etwas wesentlich Menschliches im Seelenleben der Menschheit. Und was anderes könnte dieses wesentlich Menschliche sein als die menschliche Vernunft?
 Ohne Zweifel eignen sich auch die oben genannten Eigenschaften sehr gut dem Helden der Kalevala, der im Seelenleben der Menschheit das Prinzip der Vernunft vertritt. Die gleiche Ilmarinen-Kraft, die sich später als Intelligenz und Genie manifestiert, kleidet sich am Anfang des Entwicklungsweges in die Gestalt der Dummheit und Trägheit. Und dass die Vernunftkräfte an sich nicht von Gefühlen abhängig sind, dass sie also kalt sind, ist psychologisch und metaphysisch ebenso wahr wie die Tatsache, dass die Leidenschaften und Gefühle durch das Denken und die Vernunft beinahe grenzenlos angefeuert werden können.
Die Vernunft, die Intelligenz, ist ohne Zweifel auch vor allem eine menschliche Grundeigenschaft. Ohne das prometheische Feuer der Vernunft wäre der Mensch nichts anderes als ein Tier. Es ist die Vernunft, die die Menschheit über die sonstige Natur erhebt, sie auf die Höhe der Götter steigen lässt und ihr die Möglichkeit zur unendlichen Entwicklung gibt. Die alten Völker wussten das. Das indische Wort für Mensch, Manu und manusha, kommt aus dem Sanskrit Grundwort man und bedeutet Denken. Manu – „Menschentyp“ – ist somit der „Denker“. Aus demselben Stamm kommen das englische Wort man, das deutsche Mensch und das schwedische Wort människa, die alle die Bedeutung Mensch haben. Denselben Ursprung haben auch das lateinische Wort mens, „Gemüt“, aus dem das übliche Wort mental, „verstandesmäßig“, „geistig“, abgeleitet wurde. Eine interessante Ableitung des Wortes mens ist mentiri, „lügen“, wozu ein Wesen ohne Verstand natürlich nicht imstande wäre.
Es gibt ein Wort, das kein Wesen benutzen kann, bevor er auf das Niveau des Menschen gestiegen ist. Das Wort heißt Ich. Das finnische Wort für ich, minä, klingt auch so ähnlich wie ihminen (Mensch). Könnte man nun vielleicht eine Übereinstimmung mit dem finnischen Wort minä und dem indoeuropäischen Stamm man finden? Und wenn der Stamm des Wortes ihminen ihmis ist, muss man beachten, dass das „s“ in den Wörtern mens und manas (Sanskr. Gemüt, Vernunft) erscheint. Und dass ih, die erste Silbe des Wortes ihminen, wiederum dem deutschen Wort Ich ähnelt, das mit dem griechisch-lateinischen Wort ego und dem Sanskrit-Wort aham (Ich) verwandt ist, wird wohl nach Ansicht der Gelehrten dem reinen Zufall zuzuschreiben sein. Doch auch in den finnischen Wörtern „minä“ und „ihminen“ ist ein Hauch des friedvollen Geistes des uralten Denkens und der Geistestätigkeit zu spüren.
Für diejenigen, „die Ohren haben zu hören“, beweisen diese Ableitungen und Bedeutungen der alltäglichen Wörter, dass der Mensch ursprünglich als ein „denkendes und vernünftiges Wesen“ verstanden wurde. Wenn nun Ilmarinen in den Mythologien der alten Finnen die Kräfte der Vernunft vertritt, kann man feststellen, dass auch dieser Name esoterisch richtig gewählt wurde, denn das Element „Luft“ (ilma) entspricht der Vernunftwelt, der „Intelligenzebene“, wie man es in der heutigen theosophischen Literatur zu sagen pflegt, so wie das „Wasser“ für die Gefühlswelt, die „Erde“ die physische und das „Feuer“ für die Welt der höheren Vernunft und des Geistes stehen. Ilmarinen bedeutet somit den „Herren und Herrscher der Gedankenwelt“.
In der theosophischen Literatur, wie jeder, der sich mit diesem Weltbild vertraut ist, weiß, spricht man oft von der Zweiheit des menschlichen Ichs, dem höheren und dem niederen Ich und der höheren und der niederen Vernunft. Diese Einteilung, die wegen ihrer praktischen und zutreffenden Natur ihren Weg auch in unsere alltägliche Sprache und in die Literatur gefunden hat, gründet sich teils auf psychologische Wahrnehmung, teils auf geheimes entwicklungshistorisches Wissen.
Goethe lässt Faust sagen: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen.“ Jeder Mensch muss feststellen, wie Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Liebe und Hass, Schön und Hässlich, Rein und Schmutzig, Erhaben und Niedrig in seiner Seele um die Übermacht kämpfen. Und es genügt noch nicht, dass die Gegensätze Seite an Seite in seiner Seele wohnen. Oft weiß er selbst nicht, was recht und was unrecht ist, denn sein Verstand verteidigt beide. Die Selbstsucht, der für den physischen Menschen natürliche Instinkt, besiegt auch oft die schwächeren Kräfte der höheren Vernunft.
Psychologische Lehrbücher sprechen von diesem Widerspruch nur nebenbei; sie erwähnen die Existenz der reinen Vernunft, richten aber ihre Aufmerksamkeit auf die Analysierung des Seelenlebens an sich. Das Erinnerungsvermögen, der logische Verstand, die Einbildungskraft usw., von denen sie schreiben, sind alle Eigenschaften des niederen Ichs, der Vernunft; sie sind Reflektionen des Wesens des höheren Ichs. Dem Erinnerungsvermögen und der Wahrnehmung entspricht somit die weitblickende Erkenntnis der höheren Vernunft, dem logischen Verstand der kosmische Charakter der Vernunft (Vernunft = Logos), der Einbildungskraft die kreative Kraft der Vernunft. Das höhere Ich dient von Natur aus der Wahrheit, doch das niedere Ich lernt erst in der Schule der Erfahrungen, sich aus der Gewalt der selbstsüchtigen Gefühle und Leidenschaften zu befreien. Jedem philosophisch denkenden Menschen ist jedoch ohne Weiteres klar, dass man von keiner stufenweise fortschreitenden Entwicklung sprechen könnte, wenn nicht auf dem ganzen Weg der Denker, das formale Ich, ständig im Hintergrund stehen würde, vor dessen Augen sich das reale Ich – um moderne Bezeichnungen zu benutzen – ständig ändert.
Die uralte Weisheit hat immer die Rechte des höheren Ichs verteidigt und erläutert. Keine Religion – in ihrer ursprünglichen Reinheit – hat das Böse, die Sünde, als richtig erklärt. Sie alle raten dem Menschen, dagegen zu kämpfen und sie zu besiegen. Dieser Standpunkt der uralten Weisheit gründet sich auf genaue Kenntnis des Ursprungs und des Entwicklungsweges des menschlichen Ichs. Was ist nämlich dieses merkwürdige Ich, das vor dem analysierenden Blick auch der größten Philosophen wie Hume und Kant flüchtet. Was ist sein Ursprung, wie ist es geboren? Die Antwort kennt nur das geheime Wissen: Das ich des Menschen ist von Gott geboren. In der Welt gibt es nur ein Selbstbewusstheit: das Selbstbewusstsheit Gottes. Das Ich des Menschen ist nur ein Bruchstück aus dem großen, göttlichen Selbst; die Vernunft des Menschen ist ein Teil und eine kleine Abbildung des mächtigen Genies des Logos. Und wie ist das menschliche Ich geboren? Wie hat es sich entwickelt? Nachdem die niederen Naturkräfte nach einer mehrere Zeitalter andauernden Entwicklungsarbeit ein menschenartiges Tier kreiert hatten, senkte sich in diese Gestalt das Licht der Welt, die göttliche Vernunft, das Selbstbewusstsein des Logos – und aus dieser Berührung des Geistes und des materiellen Lebens wurde das menschliche Ich geboren. Der Mensch wurde aus dem Staub der Erde gemacht, und der Geist Gottes wurde in ihn eigeblasen! Der Sohn der Vernunft ist in Menschengestalt aus seiner himmlischen Wohnung auf die Erde gezogen. Das Ich des Menschen ist tatsächlich bereits von Geburt aus zweigeteilt: mit der einen Hand klammert es fest an seinem irdischen Zuhause, die andere streckt es nach dem Blau des Himmels aus. Das Ich des Menschen wurde im Tier geboren und hatte dennoch seinen Ursprung in Gott.[8]
Philosophisch könnten wir sagen: Die höchste Manifestation der Vernunft liegt darin, dass sie sich als Vernunft, d.h. als aus Gott geboren, erkennt; und das ist nur mit Hilfe des begrenzten individuellen Bewusstseins, mit anderen Worten mit Hilfe des Ichs möglich. Wie wir bereits im Zusammenhang mit Väinä­möi­nen und der Erschaffung der Welt erwähnten, ist die Geburt und die Entwicklung des menschlichen Ichs ein so wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Welt, dass sie die „zweite Erschaffung“ bezeichnet wird.
Diese „zweite Erschaffung“ wird in der Kalevala Ilmarinen aufgetragen. Er führt das aus, wozu die anderen nicht in der Lage sind. Ilmarinen ist in der Kalevala ein sehr merkwürdiges Wesen. Lasst uns also Ilmarinen und seine Arbeit näher betrachten.


13. ILMARINEN, FEUER UND EISEN


Wenn nun Ilmarinen in der Bildsprache der Kalevala die Vernunftkräfte der Menschheit vertritt, warum wird er dann als Schmied dargestellt, warum beschäftigt er sich ständig mit Eisen und Feuer, und warum wird auch der Sampo geschmiedet? Abgesehen davon dass der „Schmied“ eine treffende Bezeichnung für einen fleißigen, tatkräftigen Menschen ist und dass Arbeit ein wesentliches Merkmal der Vernunft ist und dass heute noch vom „Licht der Vernunft“ gesprochen wird, gibt es dafür eine klare okkultistische Erklärung. Dass Ilmarinen als Schmied dargestellt wird, der sich mit Eisen und Feuer beschäftigt, beweist demjenigen, der „Augen hat zu sehen“, dass die alten finnischen Weisen sowohl die richtige Sachlage als auch die allgemeinen alten Traditionen und Bezeichnungen kannten.
Die Entstehung der Vernunftkräfte und ihre Wirkung auf die Menschheit wird in der Kalevala durch das Leben des Ilmarinen vor allem in drei Ereignissen dargestellt: in der Feuerentstehungsrune, in den Eisenentstehungworten und im Schmieden des Sampo.
Die Feuerentstehung ist eine sozusagen ethische Darstellung, wie das Licht der Intelligenzkräfte, die göttliche Vernunft und Weisheit, in die im Dunklen tappende Menschheit hinuntestieg. Im vorhergehenden Kapitel wurden die Strophen aus der alten Kalevala wiedergegeben, in denen erzählt wird, wie Ilmarinen Feuer schlug. In der neuen Kalevala wurde der Name auf „ilman Ukko“ („der Alte“)[9] geändert, doch die Bedeutungsgleichheit ist auffallend. Ilmarinen, Herrscher über die Vernunftwelt und Gott der Vernunft, ist Prometheus, der der Menschheit das heilige Feuer bringt. So lange die Menschheit das himmlische Feuer treu versorgt, geht alles gut. Die Seele der Menschheit ist dann wie die vestalische Jungfrau ‒ gehorsam und unschuldig:

Neiti pitkän pilven päällä,
Impi ilman partahalla
Tuota tulta tuuitteli,
Valkeaista vaapotteli
Kultaisessa kätkyessä,
Hihnoissa hopeisissa.

Wiegte auf der langen Wolke,
Auf dem Saum der Luft die Jungfrau
Fleißig darauf wohl das Feuer,
Schaukelt hin und her die Flamme
In der goldgeschmückten Wiege,
An den silberreichen Riemen. [47. Rune]

Hier geht es um den paradiesischen Zustand, von dem die alten Mythen erzählen. Das heilige Feuer des höheren Ichs leuchtet über das junge Menschengeschlecht, das, seinem inneren Licht treu, nicht viel von der äußeren Welt weiß. Unschuldig lebt der junge Adam, und die Natur ist sein treuer Diener. Diese Zeit des Glücks und der Seligkeit im paradiesischen Lemurien ist jedoch zu kurz. Bald entzünden sich in der Menschheit die Lemminkäinen-Kräfte der Gefühle und Begierden, die sich in zwei Geschlechter, in Adam und Eva, geteilt hat. Das heilige Feuer des Geistes verliert seine Leuchtkraft. Es geschieht ein Unfall, wie die Rune erzählt:

Impi tulta tuuitteli,
Vaapotteli valkeaista,
Tulta sormilla somitti,
Käsin vaali valkeaista:
Tuli tuhmalta putosi,
Valkea varattomalta,
Kätösiltä käänteliän,
Sormilta somittelian.

Wiegt das Feuer so die Jungfrau,
Schaukelt hin und her die Flamme,
Streicht das Feuer mit den Fingern,
Wartet es mit ihren Händen,
Es entfällt darauf der Dummen,
Dieser Jungfrau ohne Vorsicht,
Aus den Händen, die es wenden,
Aus den Fingern, die es streicheln. [47. Rune]

Und das Feuer wird zu einem brennenden Blitz, der vom Himmel auf die Erde schlägt und Verwüstung, Leid, Schmerzen und Qualen mit sich bringt (47: 173‒312). Wenn nämlich die Vernunft und das Denken sich mit dem Gefühl verbinden, bilden sie die wirkende Ursache (causa efficiens) für alles sittliche Böse und das Leid, das durch die Nichtbeachtung der Naturgesetze verursacht wird. Luzifer, der Lichtbringer, der in seinem himmlischen Zuhause das gleiche wie Christus (der Logos) ist, verwandelt sich bei seinem hinuntersteigen auf die Erde zum verfluchten Satan, dem Gegner des Christus. Die reine Vernunft verteidigt die Wahrheit und Selbstlosigkeit, während der in die Netze der Leidenschaften verwickelte Verstand sich auf die Seite der Selbstsucht und des Unrechts setzt. Es bedarf wirklich der Hilfe des Väinämöinen und des Ilmarinen, wie die Kalevala erzählt; es bedarf der Mitwirkung göttlicher Willens- und Vernunftkräfte, bevor die Menschheit von seinem Sündenfall gerettet wird. Und die Arbeit, die jenen gottgeborenen Brüdern bevorsteht, ist enorm! Davon erzählt uns die Feuerentstehungsrune ausführlich. Im letzten Moment brauchen auch sie Hilfe. Und die Hilfe erscheint:

Pikku mies merestä nousi,
Uros aalloista yleni.

Stieg ein Männlein aus den Wogen,
Kam ein Held dort aus den Fluthen. [48. Rune]

Dieses „Männlein“ ist Päivän poika, der Sohn der Sonne, des Gottes, mit anderen Worten Christus in der Seele des Menschen. Das kollektive Drama wird nun zum Drama des Individuums. Das Männlein, das „aus den Wogen steigt“ ist Lemminkäinen, der zum „armen Knaben“ gewachsen ist, die aus den Fluten der Gefühle geborene göttliche Liebe. Dieser neue Mensch ist der kleinste unter den Kleinen, und dennoch ist seine Kraft die größte unter den Großen. Er ist Gottes Sohn, dem sein Vater hilft:

Vieri veitsi taivosesta,
Puukko pilvistä putosi,
Pää kulta, terä hopea,
Vieri vyölle Päivän poian.

Fiel ein Messer von dem Himmel,
Aus den Wolken fiel ein Eisen,
Goldenköpfig, silberschneidig,
Fiel zum Gurt des Sonnensohnes. [48. Rune]

Mit diesem vom Himmel gefallenen Messer spaltet er den Hecht, der das Feuer geschluckt hat, und das Feuer wird wieder frei. So bricht auch Christus, der arme Knabe im Herzen des Menschen, endgültig die Fesseln des tierischen Wesens und der Selbstsucht und befreit die göttliche Vernunft. Doch dies, wie gesagt, ist bereits esoterische und individuelle Psychologie.
Alle alten Völker haben das Feuer für heilig gehalten und Feste zum Ehren des göttlichen Lichtes und des Feuers gefeiert.  „Helavalkea“, das Pfingstfeuerfest, wurde im Frühjahr nicht nur zum Ehren des Frühlingslichtes, sondern auch zum Ehren des heiligen Feuers der Vernunft und der Weisheit gezündet, an dessen Erguss auch die Christenheit sich zu Pfingsten erinnert. Ohne uns in sprachwissenschaftliche Diskussionen zu verstricken, möchten wir uns fragen, ob nicht das Wort „hela“ mit dem heiligen Elmsfeuer der Germanen in Verbindung gebracht werden könnte, und ob nicht beide mit dem griechischen Hermes-Feuer der Griechen verwandt sind (Hermes-Mercurius war der Götterbote und der Gott der Weisheit).
Die Eisenentstehungsrune wiederum beschreibt die menschliche Geschichte der Vernunftkräfte aus einer anderen, sozusagen niederer, realistischer Sicht. Beim ersten Lesen dieser Rune, dieser Beschwörungsformel, sehen wir darin nichts anderes als eine Darstellung oder eine Vermutung über den Ursprung des Eisens. Das „Eisen“ könnte höchstens die physische Materie an sich bedeuten, wie es in den ersten Strophen heißt:

Ilma on emoja ensin,
Vesi vanhin veljeksiä,
Rauta nuorin veljeksiä,
Tuli kerran keskimäinen.

Luft vor Allem ist die Mutter,
Wasser ist der ältste Bruder,
Eisen ist der jüngste Bruder,
In der Mitte steht das Feuer.“ [9. Rune]

Wenn hier die „Luft“ für die Gedankenwelt an sich und das „Wasser“ für die Gefühlswelt steht, so wird wohl das „Eisen“ für die physische Welt stehen. Weil aber bei der Entstehung des Eisens Ilmarinen die Hauptrolle spielt[10] und sein Schlüssel bereits gefunden wurde, ist es klar, dass das Eisen, genauso wie das Feuer, irgendein Produkt oder eine Manifestation der Vernunftkräfte symbolisiert. Lasst uns an der Bedeutung des „Feuers“ festhalten, von der vorhin die Rede war: Das Feuer kommt aus dem Himmel; das Feuer ist das reine Feuer der Vernunft, das göttliche Licht, von dem das Evangelium nach Johannes   (1: 4) spricht. Dann fällt es uns nicht schwer zu verstehen, was das „Eisen“ ist.
Das Eisen – so sagt die Rune – ist der jüngere Bruder des Feuers, eng verwandt mit ihm:

Olipa aikoa vähäinen,
Rauta tahteli tavata
Vanhempata veikkoansa,
Käyä tulta tuntemahan.

„Dauerte ein kurzes Weilchen,
Will das Eisen schon besuchen
Seinen lieben ältern Bruder,
Will das Feuer kennen lernen.“ [9. Rune]

Was anderes könnte also das Eisen sein, als der jüngere Bruder der reinen Vernunft, d.h. der niedere Verstand, die Logik, die oft eisern bezeichnet wird? Das Eisen, verglichen mit dem Feuer, ist wirklich dunkel. So ist auch unser irdischer Verstand, verglichen mit der himmlischen, höheren Vernunft; und im Evangelium wird auch richtig gesagt: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Johannes 1: 5), obwohl die Finsternis, das Nichtwissen, sich immer nach dem Licht sehnt – wie das Eisen in der Kalevala. Die alten Völker sprachen auch oft von der finsteren „Eisenzeit“, in der die Menschheit heute lebt, und erinnerten sich mit Sehnsucht an die frühere „goldene Zeit“, als das Feuer des Geistes des höheren Ichs in der sündenfreien Menschheit noch ungehindert leuchtete.
Beim Lesen der Eisenentstehungsrune fällt uns gleich am Anfang etwas auf: Das Eisen wurde – allerdings durch Ilmarinen – geboren, bevor Ilmarinen geboren wird. So geschah es, im Lichte des geheimen Wissens, auch bei der Entwicklung der Menschheit. Bevor die Ilmarinen-Kräfte der Vernunft wirklich geboren wurden, war bereits eine zum Denken herantastende, aber von unten her angefangene „natürliche Evolution“ bereits im Gange. In dem damaligen Tierreich, d.h. in der noch vollkommen zum Tierreich gehörenden Menschheit, war bereits eine primitive Denkfähigkeit erwacht. Man konnte von keinem individuellen Denken oder Vernunfttätigkeit sprechen, doch im gemeinsamen Bewusstsein gab es bereits erste Zeichen vom Selbstbewusstsein: Nachahmungswille, Bewunderung, Anhänglichkeit, Treue – Bewusstseinsarten, wie sie auch im heutigen Tierreich häufig anzutreffen sind. Der Samen des Verstandes war somit bereits in den Boden der Menschenseele gesät – das Eisen in Sumpf und Berg versteckt, wie es in der Kalevala heißt – bevor es unter die Menschen kam.
Erst danach erzählt die Rune von der Geburt des Ilmarinen, dem Erwachen der höheren Vernunftkräfte:

Syntyi seppo Ilmarinen,
Sekä syntyi, jotta kasvoi,
Se syntyi sysimäellä,
Kasvoi hiilikankahalla,
Vaskinen vasara käessä,
Pihet pikkuiset piossa.
Yöllä syntyi Ilmarinen,
Päivällä pajasen laati.

Ilmarinen war geboren,
War geboren und gewachsen,
Auf dem Kohlenberg geboren,
Auf der Kohlenflur gewachsen,
In der Hand den Kupferhammer,
In der Faust die kleinen Zangen.
In der Nacht ward er geboren,
Baut am Tage seine Schmiede. [9. Rune]

Es handelte sich um keine von unten her stattfindende Evolution. Ilmarinen war nicht wie ein Neugeborener, der zu nichts imstande ist. Er war der „geschickte Schmiedekünstler“, bereits bei seiner Geburt fertig. „In der Nacht ward er geboren, Baut am Tage seine Schmiede.“ Er war ein alter Bürger einer anderen Welt, der sich auf Erden in eine sichtbare Gestalt kleidete. Wenn in der alten Kalevala ein von Louhi entsandter Vogel Ilmarinen fragt, weshalb er ein so geschickter Schmiedekünstler sei, antwortet dieser:

Siks’, olen kovin osaava,
Varsin taitava takoja:
Kauan katsoin luojan suuhun,
Partahan jalon jumalan,
Ennen taivoa takoissa,
Ilman kantta kalkuttaissa.

Deshalb bin ich Schmiedekünstler,
Gar geschickt in Kunst des Schmiedens:
Weil ich auf den Mund des Shöpfers,
Auf den Bart des edlen Gottes
Lange schaute bei dem Schmieden,
Bei dem Himmelsbogen Hämmern.

Hier geht es also eindeutig um das himmlische Feuer der Vernunft, das aus den Höhen des Geistes in die Menschheit hinuntergestiegen ist. „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt.“ (Johannes 1: 9). Der Verstand war durch die natürliche Evolution allmählich erwacht, doch erst als die heiligen Ilmarinen-Kräfte der Vernunft sich mit dem Verstand verbanden, entstanden individuelle Menschen. Naturwissenschaftler glauben normalerweise nicht an eine solche „übernatürliche“ Mitwirkung. Doch einer von ihnen, der Wissenschaftler A. R. Wallace, ein bekannter Mitarbeiter von Darwin, gibt zu, dass er den Ursprung des menschlichen Geistes unmöglich anders verstehen kann, als durch eine solche übernatürliche Involution.
In der Eisenentstehungsrune gibt es nun natürlich eine historische Lücke. Darin wird nichts über die glückliche goldene Zeit erzählt, in der das höhere Licht des Geistes die Übermacht hatte und das Eisen noch „im Sumpf lag“. Die Eisenentstehungsrune beginnt mit der Erzählung darüber, wie die Ilmarinen-Kräfte nach dem „Sündenfall“ beauftragt wurden, das Eisen des logischen Verstandes ans Tageslicht zu holen und daran zu schmieden. Und das Eisen hat dann wirklich Angst vor dem Feuer:

Rauta raukka säpsähtihe,
Säpsähtihe, säikähtihe,
Kun kuuli tulen sanomat,
Tulen tuimat maininnaiset.

Sehr erschrickt das arme Eisen,
Ist voll Schreckens, ihm wird bange,
Als vom Feuer es nur hörte,
Von des Feuers tollem Treiben. [10. Rune]

Doch Ilmarinen tröstet das Eisen mit den schönen Worten:

Ellös olko milläskänä,
Tuli ei polta tuttuansa,
Herjaele heimoansa!
Kun tulet tulen tuville,
Valkean varustimille,
Siellä kasvat kaunihiksi,
Ylenet ylen ehoksi,
Miesten miekoiksi hyviksi,
Naisten nauhan päättimiksi.

Also sei es keinesweges,
Nicht verbrennt das Feuer Freunde,
Schadet nimmer den Verwandten!
Kommst du in des Feuers Stube,
Zu dem Aufenthalt der Flamme,
Wirst gar schön empor du wachsen,
Wirst gar kräftig du gedeihen,
Wirst zum schönen Schwert des Mannes,[11]
Wirst zur Schnall’ am Weibergürtel.[12] [10. Rune]

Der irdische Verstand will nicht gern im Feuer der heiligen Weisheit der Vernunft gedeihen – er betet, „aus des rothen Feuers Qualen“ befreit zu werden, doch Ilmarinen bemerkt aus gutem Grund, dass das Böse ganz und gar siegen wird, wenn der niedere Verstand seine eigenen Wege gehen darf:

Jos otan sinun tulesta,
Ehkä kasvat kauheaksi,
Kovin raivoksi rupeat,
Vielä veistät veljeäsi,
Lastuat emosi lasta.

Nehm’ ich dich jetzt aus dem Feuer,
Wirst gar furchtbar du gerathen,
Viel zu wild du dich gebehrden,
Deinen eignen Bruder schneiden,
Deiner Mutter Kind verwunden. [10. Rune]

Doch mitten in seiner Qual schwört der Verstand, dass er nichts Böses will. Ilmarinen reißt das Eisen aus dem Feuer, stellt es auf den Ambos und fängt an zu schmieden. Jetzt fehlt nur noch die letzte Prüfung, bevor aus dem Verstand ein gutes Werkzeug der Vernunft wird:

Viel’ oli pikkuista vajalla,
Rauta raukka tarpehessa:
Eipä kiehu rauan kieli,
Ei sukeu suu teräksen,
Rauta ei kasva karkeaksi
Ilman veessä kastumatta.

Fehlt dem Eisen noch ein wenig,
War dem Armen noch 'was nöthig:
Noch nicht kocht des Eisens Zunge,
Noch nicht wuchs der Mund des Stahles,
Hart gedieh noch nicht das Eisen,
Von dem Wasser nicht befeuchtet. [10. Rune]

Die Prüfung des Gefühls! Die Logik muss ins Taufwasser der Gefühle und Leidenschaften getaucht werden. Und Ilmarinen versteht, dass das Taufwasser süß und gut sein wird (9: 207‒230). Doch was geschieht? Die Biene, die er um Honig bittet, erfüllt nicht seinen Wunsch:

Lenteä hyrähtelevi,
Viskoi Hiien hirmuloita,
Kantoi käärmehen kähyjä,
Maon mustia mujuja,
Kusiaisen kutkelmoita,
Sammakon salavihoja,
Teräksen tekomujuihin,
Rauan karkaisuvetehen.

Fliegt mit Schnelligkeit von dannen,
Streuet alle Schrecken Hiisi’s,
Bringt das Zischen böser Schlangen,
Bringt das schwarze Gift der Nattern,
Bringt die Ätze der Ameisen,
Bringt geheimes Gift der Frösche
Zu des Stahles Schmiedewasser,
Zu des Eisens Härtungssafte. [10. Rune]

Die Gefühle waren doch nicht schön! Wenn der niedere Verstand in den Strudel der tierischen Leidenschaften und Lüste gerät, erlischt sein geliehenes Licht und seine ganze Kraft fließt in die Gefühle. Ilmarinen taucht das Eisen in das verdammte Wasser, und:

Sai siitä teräs pahaksi,
Rauta raivoksi rupesi,
Petti vaivainen valansa,
Söi kuin koira kunniansa,
Veisti raukka veljeänsä,
Sukuansa suin piteli,
Veren päästi vuotamahan,
Hurmehen hurahtamahan.

„Böse mußt’ der Stahl da werden,
Und erzürnen mußt’ das Eisen,
Brach erbärmlich seine Eide,
Fraß nach Hundeart die Schwüre,
Schnitt den Bruder ohn’ Erbarmen,
Wüthet gegen die Verwandten,
Läßt das Blut gar reichlich fließen,
Aus der Wunde heftig brausen.“ [10. Rune]

Die Eisenentstehungsrune endet mit dieser in ihrer dramatischen Realismus ausgezeichneten Beschreibung über den intellektuellen Zustand der Menschheit, der zum Teil heute noch fortdauert, obwohl die Ilmarinen-Kräfte in der Form der Kultur bereits viel und lange in der Menschheit gewirkt haben.[13]


14. ILMARINEN UND SAMPO


Das Schmieden des Sampo ist die merkwürdigste Arbeit, die Ilmarinen durchführt. Einer der wichtigsten Schlüssel zur Verständnis der Kalevala ist deshalb die richtige Auffassung der Bedeutung des Sampo. Da wir bereits wissen, was Ilmarinen ist und was das Schmieden bedeutet, fällt es uns nicht schwer, uns eine Vorstellung über den Sampo zu machen. Der Sampo ist etwas, das die Vernunftkräfte in der Menschheit durch harte Arbeit zustande bringen. Und was anderes könnte es sein, als die Kultur, fällt uns sofort ein. „Der Sampo repräsentiert alle Gewerbe der damaligen Zeit“, sagte bereits Lönnrot. Durch Kultur- und Bildungsarbeit wurde der menschliche Verstand, der ‒ in ihren tierischen Instinkten verstrickt ‒ in die Irre geführt, wieder in richtige Bahnen geleitet. Die Kalevala erzählt jedoch, dass gerade der Sampo den Anlass zu neuen und noch größeren Konflikten gab. Nachdem Ilmarinen für die Wirtin von Pohjola den Sampo geschmiedet hatte, schloss sie ihn in den Steinberg von Pohjola ein, was den Helden der Kalevala offensichtlich nicht gefiel. Das Volk von Pohjola wurde zwar durch den Sampo wohlhabend, aber man hatte keinen weiteren Nutzen davon, im Gegenteil, dem Volk von Kaleva brachte er eher Schaden. Hätte der Sampo lediglich Kulturarbeit, gewerbliche Tätigkeit, Wissenschaften und Kunst bedeutet, könnte man vermuten, dass Ilmarinen einen neuen, noch besseren Sampo hätte schmieden können. Das konnte er aber nicht. Es blieb also den Helden der Kalevala nichts anderes übrig, als den Sampo zu stehlen und ihn auf diese Weise aus dem Steinberg von Pohjola zu befreien. Das zeigt uns, dass hinter dem Sampo eine noch tiefere und geheimere Bedeutung steckt.
Das Sampo-Rätsel in dieser tieferen Bedeutung wird durch die uralte Weisheit und Überlieferung gelöst. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass das geheime Wissen nicht denselben Standpunkt vertritt wie die heutige, mehr oder weniger materialistische Auffassung über die Entstehung von Kultur, Religionen, Staaten usw. Das geheime Wissen vertritt eine ganz gegenteilige Meinung. Danach sind alle Kulturen und Religionen von oben her initiiert, d.h. seitens der weiter entwickelten und intelligenteren Wesen. Wenn nun die Menschheit in uralten Zeiten unerfahren und unentwickelt war, erhebt sich die Frage, wo dann intelligente und weit entwickelte Individuen zu finden waren. Auch diese Frage beantworten die Traditionen auf eine ganz natürliche Weise: selbstverständlich von einem anderen Planeten, dessen Menschheit, während sie im Wesentlichen der Menschheit der Erde ähnlich war, unermesslich viel älter und weiter entwickelt war und deshalb imstande war, Helfer und Lehrer auf die Erde zu entsenden. Heute, wenn Theorien über die Wanderung des organischen Lebens von einem Planeten zum anderen vorgebracht werden, dürfte uns eine solche Annahme nicht unmöglich erscheinen.
Es gelingt den Väinämöinen- und Lemminkäinen-Kräften nicht, und nicht einmal den Ilmarinen-Kräften allein, die Aufmerksamkeit der Menschheit auf sich zu richten. Die Menschheit würde über ihre göttlichen Fähigkeiten in Unwissenheit bleiben, wenn nicht Väinämöinen Ilmarinen auffordern würde, den Sampo zu schmieden. Erst wenn der Sampo geschmiedet ist, gibt die schöne Nordlandstochter nach.
Ilmarinen vertritt somit all die Vernunftkräfte, die in der Menschheit eine Rolle spielen, nicht nur die eigene Vernunft der Menschen auf dieser Erde, sondern auch das Genie und die Weisheit aller von woanders hierher gezogenen Helfer, Lehrer, Heilande und Gesetzgeber.
Was ist also der Sampo?
Der Sampo ist die geheime Weisheit, die die ursprünglichen Weisen von woanders der Menschheit brachten – die Geheimwissenschaft, die in der sog. geheimen oder weißen Bruderschaft und in deren unsichtbarem, „nicht von Menschenhand gebautem“ Tempel verkörpert ist. Das geht bereits aus dem Namen Sampo hervor. Castrén erzählt, dass er von einem uralten buddhistischen Tempel gehört hätte, dessen Name in der mongolischen Sprache Sampo, in der tibetischen Sangphu[14] sei. Das tibetische Wort bedeutet „geheime Quelle“ (zu allem Glück).[15] Es gibt auch ein anderes tibetisches Wort, mit dem unserer Meinung nach der Sampo verglichen werden könnte, nämlich Zampu[16], der „Baum des Lebens“ der Tibeter. Der Baum hat drei Wurzeln: die erste steigt auf den Himmel, auf den Gipfel der höchsten Berge, die zweite geht nach unten in die Unterwelt, die dritte bleibt in der Mitte und erstreckt sich nach Osten. Um die sprachwissenschaftlichen Spekulationen noch weiterzuführen, könnten wir sagen, dass der Sampo gleichbedeutend mit Sambo oder Sambodha sei, was in Sanskrit „das höchste Wissen oder die höchste Weisheit“ bedeutet, und warum auch nicht das gleiche wie das lateinische summum bonum, „das höchste Gut“? Der Versuch von Comparetti[17], das Wort Sampo mit dem schwedischen, künstlich zusammengestellten Wort sambo („Lebensgemeinschaft“) zu verbinden, ist unseres Erachtens auch sprachwissenschaftlich misslungen. Auf die Erklärung von Friis[18], nämlich dass der Sampo ein lappländischer Schamanentrommel sei, werden wir später zurückkommen.[19] Und wenn die Regel, dass man die Erklärung der in Märchen vorkommenden Namen vor allem in der eigenen Sprache suchen sollte, richtig ist, warum könnte dann der Sampo nicht auf das Wort samapolku (der gleiche Pfad) (der Weisheit) (nämlich dergleiche Pfad, den die Weisen auch früher gegangen sind, um zur Erkenntnis zu gelangen) zurückzuführen sein? Wir halten es übrigens für nicht unmöglich, dass das Wort Sampo mit den Wörtern sampi, (Stör) und sammas (Pfeiler) zusammenhängt, wie die Sprachwissenschaftler heute vermuten.[20] Doch die geistige Bedeutung des Zusammenhangs wird erst dann klar, wenn das Mysterium des Sampo mit einem okkultistisch-psychologischen Schlüssel geöffnet wird, was wir im Kapitel 28 tun werden.
Lasst uns aber, trotz der Philologie, die hier genannte okkultistische Bedeutung des Wortes Sampo im Auge behalten. Dann verstehen wir den Nachdruck in den Worten der Wirtin von Pohjola, wenn sie, halb schmeichelnd, halb misstrauisch Ilmarinen fragt:

„Ohoh seppo Ilmarinen,
Takoja iänikuinen,
Saatatko takoa sammon,
Kirjokannen kirjaella
Joutsenen kynän nenästä,
Maholehmän maitosesta,
Ohran pienestä jyvästä,
Kesä uuhen untuvasta?“

„O du Schmieder Ilmarinen,
Ewig tücht’ger Schmiedekünstler,
Kannst du mir den Sampo schmieden,
Mir den bunten Deckel hämmern
Aus der Schwanenfeder Spitze,
Aus der Milch der güsten Stärke,
Aus dem kleinen Korn der Gerste,
Aus des Sommerschafes Wolle? [10. Rune]

Ilmarinen hat hier eine übermenschliche, übernatürliche und für den logischen Verstand unmögliche Aufgabe vor sich. Er kann den Sampo mit unentwickelten menschlichen Fähigkeiten nicht schmieden, sondern muss mit Hilfe der Götter arbeiten, wie beim Schaffen eines Kunstwerkes. Nur solche Wesen, in denen das höhere Ich bereits selbstbewusst und lebendig ist und deren Erkenntnisfähigkeit nicht durch Sinneswahrnehmungen und Logik der Sterblichen eingeschränkt ist, können das größte Kunstwerk des Lebens schaffen, d.h. die geheime Schule gründen, in der die Menschen unserer Erde sich weiterbilden können.[21]
Die Beschreibung der Kalevala über das Schmieden des Sampo ist unserer Meinung nach nicht sehr gut gelungen: die ursprüngliche Tradition hat es sicherlich auch nicht sehr ausführlich beschrieben, obwohl es ‒ wenn wir, wie Juhani Aho[22], den Sampo als ein menschliches Kunstwerk betrachten ‒ ästhetisch eindrucksvoll und psychologisch richtig ist. Das Material dafür hat die Kalevala anscheinend der Eisenentstehungsrune und dem Schmieden der goldenen Jungfrau entnommen, mit denen die Einzelheiten des Schmiedens auch faktisch übereinstimmen.[23] Zur Gestaltung des Sampo reichen unserer Meinung nach die Strophen 281‒310 und 393‒422, die mit der Beschreibung des von Ilmarinen geschmiedeten Sampo enden:

Siitä seppo Ilmarinen,
Takoja iänikuinen
Takoa taputtelevi,
Lyöä lynnähyttelevi,
Takoi sammon taitavasti:
Laitahan on jauhomyllyn,
Toisehen on suolamyllyn,
Rahamyllyn kolmantehen.
Siitä jauhoi uusi sampo,
Kirjokansi kiikutteli,
Jauhoi purnun puhtehessa,
Yhen purnun syötäviä,
Toisen jauhoi myötäviä,
Kolmannen kotipitoja.
Ilmarinen, er, der Schmieder,
Dieser ew’ge Schmiedekünstler,
Schmiedet mit behenden Schlägen,
Klopfet mit gar kräft’gem Hammer,
Schmiedet gar geschickt den Sampo,
Daß er Mehl auf einer Seite,
Auf der zweiten Salz er mahlet,
Auf der dritten Geld in Fülle.
Frisch geschmiedet mahlt der Sampo,
Schaukelt hin und her der Deckel,
Mahlt ein Maaß beim Tagesanbruch,
Mahlt ein Maaß, daß man es esse,
Mahlt ein zweites zum Verkaufen,
Mahlt ein drittes zum Verwahren. [10. Rune]

Die Symbolik ist nicht schwer zu verstehen, denn die Lehrer und die Abgesandten der geheimen Bruderschaft haben die gesamte Kultur in die Wege geleitet. Das „Mehl“ ist das Brot, alles, was der Mensch für sein materielles Auskommen braucht (also die Landwirtschaft, vor allem in den nördlichen Gegenden). Doch der Mensch lebt nicht von Brot allein: er braucht auch geistige Nahrung die „aus Gottes Mund kommt“, wie Jesus sagte. Das Symbol dieses geistigen Lebens und Wissens ist das „Salz“ – auch Jesus sagte ja: „Ihr seid das Salz der Erde.“ Und erst der Reichtum (dessen Symbol das „Geld“ ist) ermöglicht die Kultur: Das geistige Leben könnte seinen Ausdruck in Wissenschaften, Kunst, Religionen usw. nicht finden, wenn es keinen Reichtum gäbe, d.h., wenn man nicht von allen materiellen Gütern mehr hätte, als was man gerade braucht.
Ist es also verwunderlich, dass die Wirtin von Pohjola entzückt ist!
Wenn dann der Sampo in den Steinberg von Pohjola hinter neun Schlössern eingeschlossen ist, beginnt der große Krieg über den Sampo. Die Menschen teilen sich in zwei Fronten: Das Volk von Kaleva will den Sampo, oder auch nur ein Stück davon, zurückbekommen, während das Volk von Pohjola ihn neidisch für sich behält.
Was anderes ist das, als die Erinnerung der finnischen alten Weisen an den Kampf zwischen den „Weißen“ und den „Schwarzen“ auf dem Kontinent Atlantis? Während der dritten Wurzelrasse (siehe oben) waren die großen Helfer in der Menschheit inkarniert. Während der vierten Wurzelrasse entwickelte sich auf dem Atlantis die „schwarze Magie“ und erreichte bedenkliche Formen und Besorgnis erregende Ausmaße und Kraft. Der Sampo war in die Hände des Volkes von Pohjola geraten: zu viel Wissen und Weisheit in die Hände von Menschen, die sie nicht richtig einsetzen konnten, sondern für sich selbst, für ihre selbstsüchtigen Zwecke, benutzten.[24] Die „Herren der weißen Gesichter“ beschlossen dann zu retten, was zu retten war, um die Menschheit vor dem Stürzen in die Hölle zu bewahren. Die Treuen aus Kalevala ‒ Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen als Führer ‒ begaben sich dann auf eine große Rettungsexpedition ins dunkle Pohjola, und die Kalevala erzählt ‒ wie auch die geheimen Tradition ‒ dass Väinämöinen als der älteste der Weisen das Volk von Pohjola in einen tiefen Schlaf fallen ließ. Dieses kleine Detail allein reicht aus, um zu beweisen, dass es auch in der Kalevala um den großen Krieg auf dem Atlantis geht, wovon die alten Völkertraditionen allgemein reden.[25]



Beim Lesen der schönen Runen (14 und 15) über den Tod und die Auferstehung des Lemminkäinen fällt es dem Leser, vorausgesetzt, er kennt das theosophische Weltbild, eine alte Lehre ein, die für ihn manche Lebensrätsel gelöst hat und die ihm übrigens auch in den Sinn kommt, wenn er an die christliche Auferstehung denkt. Diese alte Lehre ist die Reinkarnations- oder Wiedergeburtslehre, die einem auf den ersten Blick recht seltsam vorkommt.
Sie beinhaltet den Gedanken, dass der Mensch weder das erste noch das letzte Mal auf der Erde lebt. Er wird wieder und wieder auf Erden geboren. Seine Seele stammt weder von seinen Eltern, noch wurde sie am Anfang des jetzigen Lebens von Gott erschaffen, sondern hat bereits vor seiner Geburt existiert. Wo? In der unsichtbaren Geistwelt, in die er immer wieder nach dem irdischen Leben zurückkehrt. Die Seele des Menschen ist gewissermaßen ein fremder Wanderer hier auf Erden, der durch die Pforte der Geburt hierher kommt und durch die Pforte des Todes die Erde verlässt.
Die Reinkarnation ist durchaus nicht erfolglos, nutzlos oder bedeutungslos. Sie beinhaltet die gesamte Entwicklungsidee. Sonst gäbe es auch keine Entwicklung. Das Leben würde sich ewig im Kreise drehen, ohne sich vom Fleck zu rühren, wenn die individuellen Errungenschaften immer durch den Tod unterbrochen würden. Doch wenn es etwas – die Seele – gibt, was die Ernte in die eigene Scheune bringt, dann gibt es die Möglichkeit der ununterbrochenen Entwicklung. Die physische Vererbung kann z.B. den Fortbestand des Genies nicht garantieren – es gibt selten mehrere kreative Genies in einer Familie – doch die Reinkarnation macht es möglich. Wenn die Seele des Menschen in ihrer Entwicklung den Grad des Genies erreicht hat, wird sie ihr Genie behalten und noch höher steigen. Das ist nur deshalb möglich, weil der Mensch eine Seele ist, die in der unsichtbaren Welt lebt und auf der Erde geboren wird, um zu lernen, zu arbeiten und um Aufgaben zu erfüllen.
In der Lemminkäinen-Rune betont die Kalevala unserer Meinung nach diese Macht des Lebens über den Tod sehr schön. Das Lebenswerk des Lemminkäinen wird unterbrochen. Er geht mitten in seinen Unternehmungen zugrunde. Selbst wenn er selbst daran schuld ist, finden wir es jedoch hart und bitter, dass ein vielversprechender Lebenslauf vorzeitig unterbrochen wird.

Se oli loppu Lemminkäisen,
Kuolo ankara kosian
Tuonen mustassa joessa,
Manalan alantehessa.

Also endet Lemminkäinen,
Starb der unverdrossne Freier
In dem schwarzen Strome Tuoni’s,
In der Niederung Manala’s. [14. Rune]

„Das war das Ende“, denken wir. Doch das Leben ist nicht so hart und bitter. Die Reinkarnationsidee lässt die Angst vor dem Tod verschwinden. Der Mensch verlässt diese Welt der Erfahrungen, Leiden, Arbeiten und Aufgaben nicht für ewige Zeiten. Seine Mutter – die Natur – erweckt ihn aus den Toten, und die Kalevala hat eine lange Rune für diese Mutterliebe und deren Arbeitsweise gewidmet, gleichsam um uns zu zeigen, dass wir keine Angst vor dem Tod haben müssen. Die Kalevala vertritt also denselben Optimismus wie die anderen alten Weltanschauungen, zu denen, wie z.B. der indischen und der ägyptischen, der Glaube an die Reinkarnation gehört hat.
Für einen wissenschaftlich orientierten Leser ist eine solche Schlussfolgerung über den Reinkarnationsglauben der alten Finnen sicherlich zu unüberlegt. Man spricht ja darüber nirgendwo mit klaren Worten, und es ist unwissenschaftlich, aus den Worten der Runen etwas herauszuholen, was in denen nicht enthalten ist! Mag sein, antworten wir darauf, doch lasst uns nicht vergessen, dass wir eben versuchen, aus den Worten mehr Inhalt herauszuholen, als was sie scheinbar beinhalten. Wir finden es keineswegs unwissenschaftlich. Nur die Art und Weise, wie wir es machen, kann entweder sinnlos und unwissenschaftlich oder vernünftig und auf sachlichen Gründen basierend sein. Es ist natürlich unsere Pflicht, in dieser Hinsicht kritisch zu sein.
Wir haben allerdings unsere eigenen inneren Gründe für unsere feste Überzeugung, dass die finnischen Weisen die Reinkarnation kannten und sie für ein unerschütterliches Lebensgesetz hielten. Wir selbst brauchen also dafür keine äußeren Beweise. Unseres Erachtens ist es aber auch nicht verkehrt, in der Kalevala und in anderen alten Dichtungen Zeichen für den Glauben an die Reinkarnation zu suchen. Wir glauben sogar, dass die Beute der Sammler der Runen und Beschwörungsformeln üppiger ausgefallen wäre, wenn sie diese Möglichkeit in Betracht gezogen hätten. Unter dem Volk gibt es immer noch Weise, die die Reinkarnation aus ihrer eigenen Erfahrung kennen.
In der Kalevala gibt es unseres Erachtens auch andere Stellen, die auf die Reinkarnation hinweisen. Eine solche Stelle ist die gesamte Lebensgeschichte des Lemminkäinen mit klar umrissenen Abschnitten und Parallelnamen. Wir haben bereits darüber gesprochen[26] und erwähnen hier nur, dass jene Entwicklungsabschnitte auch ausgezeichnet geeignet sind, die Reinkarnation eines menschlichen Individuums darzustellen. Nennen wir dieses Individuum oder diese Seele Lemminkäinen: dann ist Naßhut der Heerdenhüter ein Hinweis auf die früheren Inkarnationen des Lemminkäinen, der Inselländer Ahti eine typische Darstellung der späteren Inkarnationsreihe, Lemminkäinen der darauf folgenden und der arme Knabe eine Darstellung der Abschlussszenen.
Eine andere Stelle, die einen Hinweis auf die Reinkarnation enthält, ist das vielsagende Versprechen des Väinämöinen zurückzukehren.

Annapas ajan kulua,
Päivän mennä, toisen tulla,
Taas minua tarvitahan,
Katsotahan, kaivatahan
Uuen sammon saattajaksi,
Uuen soiton suoriaksi,
Uuen kuun kulettajaksi,
Uuen päivän päästäjäksi,
Kun ei kuuta, aurinkoa
Eikä ilmaista iloa.

Laß die liebe Zeit nur hingehn,
Tage gehn und Tage kommen,
Man wird meiner schon bedürfen,
Nach mir schauen, nach mir blicken,
Daß ich neu den Sampo schaffe,
Daß ich neu das Spiel beginne,
Neu den Mond zum Himmel führe,
Frei die neue Sonne mache,
Da man ohne Mond und Sonne
Wohl sich nie der Welt erfreuet. [50. Rune]

Wie diejenigen, die mit alten Religionen oder der heutigen Theosophie vertraut sind, wissen, ist mit der Reinkarnationslehre eine andere Lehre aufs Engste verbunden. Dabei handelt es sich um die Lehre über das Gesetz der Ursache und Wirkung, die die Buddhisten Karma nennen. Von diesem Karma, in Verbindung mit der Reinkarnation, hängt ab, wie die Inkarnation eines Individuums jeweils wird. Die angeborenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind „Geschenke“ des Karmas, d.h. Folgen seiner eigenen Vergangenheit, von ihm selbst geschaffen und entwickelt. Die Familie und die Umgebung, in die die Menschenseele geboren wird, sind ebenfalls vom Karma bestimmt, desgleichen die „Schicksalsschläge“, von denen der Mensch während seines Lebens getroffen wird. Wenn man über das Karma nachdenkt, wird einem am besten klar, inwiefern der Wille des Menschen „frei“ ist.
Das finnische Volk hat immer fest dem „Schicksal“, dem „Schöpfer“ vertraut. „Es ist so beschieden“ ist im Augenblick der Trauer oft der einzige Trost. Und es gibt zahlreiche Sprüche, die diesen „Fatalismus“ von verschiedenen Seiten beschreiben. Wir nennen einige davon:

Gleiches wird mit Gleichem vergolten.
Was man hinter sich lässt, das findet man wieder vor sich.
Man sagt kein Wort, auf dessen Fersen man nicht fährt.
Ein hoher Baumstumpf steht bei Feuerrodung im Wege.
Auch ein Reicher wird arm, auch ein Bettler wird General.
Mal ruderst du, mal rudere ich.
Der Glückliche wird vom Schaden des anderen klug, der Erbärmliche von dem seines eigenen.
Hätte ich bloß meine frühere Zeit und meine jetzige Weisheit!
Mal war ich Sklave, mal hatte ich einen.
Als du hierher kamst, wusstest du mehr.
Vom Schaden wird man klug, nicht vom Butterkuchen.
Durch die eigene Qual lernt man die Qual des anderen kennen.

Wenn nun der feste Glaube an die Vorsehung, um im Feuer der Vernunft bestehen zu können, zu seiner Ergänzung die Erkenntnis des Reinkarnationsgesetzes beinahe dringend notwendig macht, kann man natürlich annehmen, dass das finnische Volk früher zum Vertrauen auf den Schöpfer und die Vorsehung durch den Glauben an die Reinkarnation erzogen wurde, selbst wenn die andere Seite der Erziehung und der Lehre später, in der christlichen Zeit, vergessen wurde. Auch die oben genannten Sprüche werden sofort inhaltsreicher und klarer, wenn man sie aus der Sicht der Reinkarnation betrachtet. Während einer Inkarnation wird ein Reicher nicht immer arm und ein Bettler kein stolzer Kriegsherr; doch in verschiedenen Inkarnationen wechseln sich die Rollen ab, wie beim Schauspieler auf der Bühne. Manch ein Mensch seufzt ja später in seinem Leben: Hätte ich bloß meine frühere Zeit und meine heutige Weisheit ‒ könnte ich bloß mit der Erfahrung, die ich jetzt besitze, mein Leben aufs Neue beginnen, dann wüsste ich schon, wie ich leben sollte. Nach der Reinkarnationsidee kommt diese neue Gelegenheit wieder.
Es gibt ja Menschen, für die dieses Erdenleben nur ein düsteres Tal der Finsternis ist. Sie können sich nicht einmal vorstellen, dass sie hierher wiedergeboren werden müssten. Wir glauben jedoch, dass ihr Pessimismus eher auf eine falsche Betrachtungsweise als auf wirkliche Erfahrung zurückzuführen ist. Es ist ja klar, dass das irdische Leben nicht viel zu bieten hat, wenn der Mensch nur Genuss, Freude und Glück von seinem Leben erwartet. Wenn der Mensch so etwas erwartet, geht er von einer falschen Voraussetzung aus, und wenn das Leben ihm keinen Genuss ohne Schmerzen, keine Freude ohne Sorgen, kein Glück ohne Enttäuschung bietet, ist es natürlich, dass sein „gebrochenes (egoistisches) Herz“ seinen Verstand in die Tiefen des Pessimismus lockt. Geht er aber von der Voraussetzung aus, die ihm die Reinkarnation bietet, ändert sich seine Anschauung grundlegend und seine dadurch gewonnene Seelenruhe wird nicht leicht zu erschüttern sein. Aus der Sicht der Reinkarnation ist nämlich der Mensch seines eigenen Glückes Schmied. Wir bekommen das, was wir uns schaffen. Wir müssen für unser Glück arbeiten. Wir müssen für jede Freude und jeden Genuss bezahlen. Das Leben schenkt uns nur das Leben und die Fähigkeit zu empfinden, uns zu freuen, glücklich zu sein. Alles andere müssen wir uns selber schaffen. Sogar die grundlegenden Fähigkeiten müssen wir schulen und weiter entwickeln.
Wenn es nun so aussieht, dass wir nicht das erreichen, was wir erstrebt haben, dass das Leben trotz allen unseren Anstrengungen unsere Wünsche nicht erfüllt, so ist das wirklich nur scheinbar. Wenn wir annehmen, dass wir hier wiedergeboren werden und dass wir früher hier gewesen sind, verstehen wir, dass wir jetzt das bekommen haben, was wir uns früher gewünscht haben und dass wir in einem kommenden Leben ganz sicher das erreichen werden, was wir uns heute wünschen. Und wir müssen nicht einmal so weit blicken! Wer von der Unparteilichkeit des Lebens und dessen Fähigkeit, unsere Wünsche zu erfüllen, überzeugt ist, kann in seinem Leben erfahren, dass er wirklich das erntet, was er gesät hat. Was in der Ernte mangelhaft und unvollkommen ist, daran ist das Leben nicht schuld. Der Mensch ist seinem Ideal gegenüber schwankend gewesen, er selbst ist schwach und unwissend, und alle sichtbaren Errungenschaften sind von Zeit und Ort abhängig! Ein geistig ausgeglichener Mensch erwartet nicht zu viel, weder vom Leben, noch von sich selbst.
Diese echt finnische Ausgeglichenheit wächst durch den Glauben an die Reinkarnation. Ihre große sittliche Wirkung besteht darin, dass sie unsere Auffassung über das Leid und das Böse vollkommen ändert. Weil wir hier zur Schule gehen und das Leben unser großer Lehrmeister ist, ist das Leid nichts absolut Böses. Das Leid ist die Antwort der Natur auf unsere Irrtümer. Gott schickt uns keine Leiden; das Leben plagt uns nicht mit Leiden. Wenn wir es aber nicht verstehen, unseren Verstand einzusetzen, wenn wir nicht auf die Stimme des Herzens und des Gewissens hören, sondern den tierischen Instinkten freien Lauf lassen, dann locken wir die Göttinnen des Leides und der Schmerzen aus den tiefen unseres Wesens hervor. „Gleiches wird mit Gleichem vergolten.“ Wir selbst bestrafen uns, das Leben führt und erzieht uns. „Aus Schaden wird man klug.“ Das Leid ist nur scheinbar Böses – sinnlich, nicht geistig Böses. Das Leid hat eine reinigende Kraft, eine erhebende Kraft, es sei denn, der Mensch lässt sich davon hoffnungslos unterkriegen. Böses ist nicht das, was wir leiden, sondern das, was wir tun. Leid ist Versöhnung des Bösen, doch böse ist unsere egoistische Tat, die Leid in die Welt bringt. Das ist finnische Weisheit.


16. IN DEN HÄUSERN VON TUONELA


Was sagt die Weisheit der alten Finnen über den Tod und das Leben nach dem Tod? Sie waren keine Materialisten ‒ das geben alle Forscher zu ‒ sie hatten eine Vorstellung über das Leben nach dem Tod, doch ihre Schilderungen über Tuonela, das Reich des Todes, waren grau und düster. Matti Waronen[27] sagt in seiner Dissertation: „Der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und die Fortdauer des Lebens nach dem Tod in der Form, wie es hier auf Erden war, findet man in den heidnischen Religionen aller Völker als einen Aspekt, der am meisten übereinstimmend ist, und der davon herrührende Glaube an die Anwesenheit der Geister der Toten hier auf Erden und deren Ehrung gehört zu den Grundlehren der heidnischen Religionen; diese sind in der Bevölkerung so tief verwurzelt und so fest erhalten geblieben, dass wir noch nach der Verbreitung des Christentums diese obskuren Auffassungen darin eingemischt antreffen.“[28] Kaarle Krohn sagt in seinem Buch Suomalaisten runojen uskonto (Die Religion der finnischen Runen): „Castrén hat bemerkt, dass in den finnischen Runen zwei Auffassungen über den Daseinsort der Toten erscheinen: Nach der einen fristeten sie ihr Schattendasein in ihren Gräbern, nach der anderen sammelten sie sich an einem bestimmten Ort unter der Erde, genannt Tuonela oder Manala. Castrén meint, dass sie in beiden Fällen von einem gewissen göttlichen Wesen abhängig waren. Der Herrscher über die Gräber und deren Bewohner hieß Kalma, die Herrscher Tuonelas oder Manalas nannte man hingegen Tuoni und Mana.“[29]
Eigentlich müssen wir keine neue Abhandlung über den Unsterblichkeitsglauben der alten Finnen und deren Ansichten über das Leben der Verstorbenen schreiben – diese Forschung haben unsere Wissenschaftler bereits durchgeführt, und wir können die oben genannten Bücher unseren Lesern mit gutem Grund empfehlen. Unsere Aufgabe bleibt es nur, mit einigen Worten aufzuweisen, wie viel Wahrheit in den alten, nach der Meinung der Wissenschaftler so sehr abergläubischen Auffassungen verborgen liegt. Die wissenschaftlichen Forscher stellen sich nämlich auf einen völlig negativen Standpunkt: Alle „Spukgeschichten“ basieren ihrer Meinung nach auf abergläubischer Unwissenheit, und das Licht der christlichen Aufklärung „vertreibt die Seelen der Verstorbenen von der Erde“. Die in den alten Völkern weit verbreitete Anbetung der Verstorbenen rührt nach ihrer Meinung daher, dass sie den wahren Gott nicht kennen.
Wir müssen uns also auf den Standpunkt der alten Weisen stellen und die Fragen des Todes mit ihren Augen betrachten. Das können wir tun, wenn wir die theosophische Weltanschauung in Betracht ziehen und darauf achten, was die Weisheit der Zeit, basierend auf übersinnlichen Erfahrungen und Nachforschungen zahlreicher Forscher, über das nachtodliche Leben in kurzen Zügen lehrt.[30]
Dieses Leben, das der Mensch zwischen den Inkarnationen in der Geistwelt verbringt, teilt sich naturgemäß in drei Perioden. Die erste ist die Periode der Seelenqualen, in der der Mensch seine eigene Bosheit, soweit es solches in seinem vergangenen Leben gab, erkennt; seine Erinnerungen werden lebendig; Menschen, denen er Leid zugefügt hat, kommen zu ihm, oder er bildet es sich ein, und er fühlt jetzt ihre Leiden in sich selbst; er versteht, er empfindet Reue; er bekommt Rat und Anweisungen und wird auf den rechten Weg gewiesen. Dieser Zustand oder diese Welt wird Tuonela, Kamaloka (Ort der Begierde), reinigendes Fegefeuer, Astralwelt usw. genannt.
Die zweite ist die himmlische Periode der Freude und Glückseligkeit; der Mensch führt das Erdenleben weiter darin, wo es glücklich, schön und unschuldig war. Er stirbt gleichsam weg von Tuonela und wird in einer Welt wiedergeboren, in der es weder Leid noch Böses gibt. Seine schönsten Träume werden erfüllt. Alles, was er sich vom Glück vorgestellt hat, erscheint jetzt lebendig vor seinen Augen. Er ist umgeben von allen Menschen und Lebewesen, die er geliebt hat. Dieser Zustand oder diese Welt wird Himmel, Devachan (Götterwelt), Paradies, Vernunftwelt usw. genannt.
Die dritte Periode besteht in der Vorbereitung auf ein neues irdisches Leben: Auf dem Gipfel seines Glücks und seiner Dankbarkeit beginnt der Mensch, an eine neue Verkörperung zu denken, in der er die Möglichkeit hätte, Erfahrungen zu sammeln, neue Tugenden und Fähigkeiten anzueignen und die bereits angeeigneten anzuwenden. Er wirft sich auf die Arme seines eigenen Geistes, und die Umarmung ist so gewaltig, dass die alte Persönlichkeit verschwindet und vergessen wird. Wenn dann „der Einstieg in die Materie“ wieder stattfindet und geeignete Eltern gefunden sind, beginnt ein neues persönliches Ich sich langsam zu bilden ‒ ein neues Menschenkind wird in der physischen Welt geboren.
Nun müssen wir bedenken, dass es an der Grenze zwischen dieser Welt und dem Tuonela einen Zwischenzustand, eine ätherische, halb materielle Sphäre gibt, durch die ein normaler Verstorbener in unbewusstem Zustand geht und die ihn von der physischen Welt trennt, wenn er einmal nach Tuonela gekommen ist. Wenn aber der Verstorbene sich aus irgendeinem Grund von dem irdischen Leben angezogen fühlt, kann er in diesem halbmateriellen Zwischenzustand bleiben oder von Zeit zu Zeit aus Tuonela dorthin zurückkehren. In beiden Fällen kommt er dann in Berührung mit der physischen Welt und kann mit den Lebenden entweder durch Spuken oder durch die Vermittlung von Medien verkehren.
Dass die altfinnischen Weisen diese Tatsachen der Natur kannten, ist bereits aus den Runen 16 und 17 der Kalevala klar ersichtlich, in denen von der Reise des Väinämöinen nach Tuonela und zu Antero Vipunen erzählt wird. Väinämöinen ist kein Toter, sondern ein lebender Wahrheitssuchender, der aus eigener Initiative nach Manala geht, um nach drei fehlenden Worten zu suchen – ähnlich wie Orpheus nach Tartaros hinabstieg, um seine Eurydice zu suchen. Und selbst wenn die Kalevala nicht viel von den Beobachtungen des Väinämöinen vom Leben in Tuonela erzählt, lässt sie ihn jedoch die warnenden Worte sagen:

Elkätte imeisen lapset
Sinä ilmoisna ikänä
Tehkö syytä syyttömälle,
Vikoa viattomalle!
Pahoin palkka maksetahan
Tuolla Tuonelan koissa:
Sia on siellä syyllisillä,
Vuotehet viallisilla,
Alus kuumista kivistä,
Palavoista paateroista,
Peitto kyistä, käärmehistä,
Tuonen toukista kuottu!

Handelt nie, o Menschenkinder,
Nie im Laufe dieser Zeiten
Unrecht an den Schuldentblößten,
Schadet nie den Unschuldvollen,
Daß man nicht den Lohn bezahle
In den Häusern von Tuoni:
Dorten ist der Schuld’gen Stelle,
Dort das Bett der Lasterhaften:
Unter Steinen voller Hitze,
Unter flammenreichen Blöcken,
Eine Decke wird aus Schlangen,
Wird von Nattern dort bereitet. [16. Rune]

Die grundlegende Wahrheit dieser Worte geht aus dem Vorhergehenden hervor. Die Rune beschreibt mit treffenden Worten, wie das Böse in Manala seine Vergeltung findet.
Wenn Väinämöinen die Worte, nach denen er sucht, in Tuonela nicht findet, gibt ihm ein Hirt den Rat, zu Antero Vipunen zu gehen:

Saat tuolta sata sanoa,
Tuhat virren tutkelmusta
Suusta Antero Vipusen,
Vatsasta vara väkevän

Hundert Worte kannst du finden,
Tausend Lieder du erkunden
Aus dem Munde von Wipunen,
Aus dem Bauch des Krafterfüllten. [17. Rune]

Väinämöinen fürchtet die schwierige Reise nicht. Er kommt zu dem alten Riesen Vipunen und erweckt ihn aus dem Totenschlaf. Der Riese schluckt Väinämöinen, und, wäre er ein Normalsterblicher gewesen, wäre es ihm wie den anderen ergangen. Vipunen selbst erzählt:

Jo olen jotaki syönyt,
Syönyt uuhta, syönyt vuohta,
Syönyt lehmeä mahoa,
Syönyt karjua sikoa,
En ole vielä mointa syönyt,
En tämän palan makuista…
Mi sinä lienet miehiäsi,
Ja kuka urohiasi,
Jo olen syönyt sa’an urosta,
Tuhonnut tuhannen miestä,
Enpä liene mointa syönyt,
Syet suuhuni tulevat,
Kekälehet kielelleni,
Rauan kuonat kulkkuhuni.

Habe manches schon gegessen,
Eine Zieg’, ein Schaf gespeiset,
Eine güste Kuh verschlucket,
Einen Eber wohl verschlungen,
Nie doch hab’ ich solche Speise,
Solchen Bissen nie gekostet…
Wer wohl bist du von den Männern,
Wer wohl aus der Zahl der Helden?
Hab’ verzehret hundert Helden,
Tausend Männer wohl verschlungen,
Nie gegessen deinesgleichen:
Kohlen steigen auf zum Munde,
Brände kommen an die Zunge,
Eisenschlacken in die Kehle. [17. Rune]

Doch Väinämöinen ist selbst ein weiser Wahrheitssuchender, der sich beherrschend und ohne Furcht zu seinem Ziel geht. Er gibt nicht nach, bevor Antero Vipunen sich bereit erklärt hat, ihm sein Wissen zu vermitteln.

Silloin virsikäs Vipunen,
Tuo vanha vara väkevä,
Jonk’ oli suussa suuri tieto,
Mahti ponnetoin povessa,
Aukaisi sanaisen arkun,
Virsilippahan levitti,
Lauloaksensa hyviä,
Parahia pannaksensa,
Noita syntyjä syviä,
Ajan alkuluottehia,
Joit’ ei laula kaikki lapset,
Ymmärrä yhet urohot
Tällä inhalla iällä,
Katovalla kannikalla.

Selbst Wipunen reich an Liedern,
Er, der krafterfüllte Alte,
Hat im Munde großen Zauber,
Unbegränzte Macht im Busen,
Öffnete der Worte Kiste,
Machte auf der Lieder Lade,
Um gar guten Sang zu singen,
Um den besten vorzulegen:
Von der Dinge erstem Ursprung,
Sprüche von der Dinge Anfang,
Welche Kinder nimmer singen,
Nicht die starken Helden kennen,
Jetzt in diesen bösen Zeiten,
Bei dem sinkenden Geschlechte. [17. Rune]

Wer ist nun Antero Vipunen, oder für was steht dieser kenntnisreiche Riese? Für was wohl sonst, als für das Bewusstsein der Natur oder die Welt, in der die Verstorbenen ihren himmlischen Zustand verbringen! Vipunen schläft: den Himmel hat man ja tatsächlich mit dem Schlaf, mit der friedlichen Ruhe, verglichen. Vipunen verschlingt alles: die Verstorbenen haben tatsächlich am Ende des himmlischen Zustandes ihr persönliches Selbstbewusstsein verloren. Vipunen vertreibt mit Beschwörungsformeln Väinämöinen, der ihn stört und ihm Schmerzen verursacht: Tatsächlich, Leid und Böse dürfen nicht bis zum Himmel reichen. Wenn aber Vipunen besiegt ist, öffnet er Väinämöinen die Schätze seiner Weisheit. So ergeht es tatsächlich dem Menschen, der, gleich Väinämöinen, sein Selbstbewusstsein inmitten der mächtigen Wirbel der Himmelwelt bewahren kann. Ihm öffnet sich das Gedächtnis der Natur, und er kann das „Buch des Lebens“ lesen, in dem die Erinnerung an alles registriert ist, was seit dem Anbeginn der Welt geschehen ist.[31] Antero Vipunen vertritt das große, geheime Buch der Natur, dessen Lesen allein den Weg zum Wissenden öffnet. Jeder Verstorbene muss es lesen – sowohl in Tuonela als im Himmel – doch die meisten können darin nichts anderes finden als ihr eigenes, vergangenes Leben. Glücklich ist Väinämöinen und glücklich sind Suchende wie er, die sich nicht durch das Denken an sich selbst ablenken lassen, sondern frei erforschen und von der Natur die Erkenntnis verlangen können, die einem uneigennützigen Wesen zusteht.
Wir sehen also, dass die Kalevala, wenn wir sie mit Verstand lesen können, uns mit klaren Worten über das nachtodliche Leben spricht. Die Beschreibung der Rune über die Reise des Väinämöinen nach Tuonela beweist uns noch, dass die Kalevala den halbmateriellen Zwischenzustand, der Tuonela von der physischen Welt trennt, sehr gut kennt. Wenn nämlich Väinämöinen die Jungfrau von Manala bittet, ihm ein Boot zu bringen, damit er „durch den Fluss hindurch gelange“, weigert sie sich, weil Väinämöinen nicht gestorben ist:

Vene täältä tuotanehe,
Kuni syy sanottanehe,
Mi sinun Manalle saattoi
Ilman tau’in tappamatta,
Ottamatta oivan surman,
Muun surman musertamatta.

Kommen wird das Boot von hieraus,
Wenn den Grund du angegeben,
Der dich brachte nach Manala,
Ungetödtet durch die Krankheit,
Nicht vom Tod hinweggeraffet
Und auch anders nicht vernichtet. [16. Rune]

Väinämöinen versucht zuerst, den Grund zu verbergen und behauptet, von der Jungfrau bedrängt, dass ihn Tuoni – Eisen – Wasser – Feuer nach Manala gebracht hätte. Doch „Tuoni’s kleingerathne Tochter, sie, die Jungfrau von Manala“ (16–160) antwortet jedes Mal spöttisch und vorwurfsvoll:    

Jopa keksin kielastajan!
Kunp’ on Tuoni tänne toisi,
Mana mailta siirteleisi,
Tuoni toisi tullessansa,
Manalainen matkassansa,
Tuonen hattu hartioilla,
Manan kintahat käessä…
Kun rauta Manalle saisi,
Teräs toisi Tuonelahan,
Verin vaattehet valuisi,
Hurmehin hurahteleisi…
Jos vesi Manalle saisi,
Aalto toisi Tuonelahan,
Vesin vaattehet valuisi,
Helmasi herahteleisi…
Jos tuli Manalle toisi,
Valkeainen Tuonelahan,
Oisi kutrit kärventynnä,
Partaki pahoin palanut.

Kenne schon den Lügensprecher,
Hätt’ dich Tuoni hergeleitet,
Mana aus der Welt gezogen,
Würde Tuoni selbst dich bringen,
Manalainen selber führen,
Tuoni’s Hut auf deinen Schultern,
Mana’s Handschuh’ an den Händen…
Hätt’ dich Eisen hergeführet,
Stahl dich nach dem Reich Tuoni’s,
Würde Blut vom Kleide triefen,
Würd’ es roth herniederrauschen…
Brächt’ dich Wasser nach Manala,
Wogen nach dem Reich Tuoni’s,
Würd’ es naß vom Kleide fließen,
Von dem Saume niedertriefen…
Brächt’ dich Feuer nach Manala,
Flammen nach dem Reich Tuoni’s,
Wären wohl versengt die Locken,
Wär’ dein Bart nicht ohne Schaden. [16. Rune]

Die Worte der Jungfrau von Manala beschreiben exakt und realistisch die Tatsache, dass man im ätherischen Zwischenzustand an der äußeren Erscheinung des Menschen erkennen kann, was ihn zu Tode gebracht hat. Er ist in eine halbmaterielle Äthergestalt gekleidet, die dem physischen Leib ähnlich aussieht. Deshalb sehen auch die Verstorbenen, wenn sie zur Stunde des Todes oder später einem Angehörigen oder einem sonst sensitiven Menschen erscheinen, ähnlich wie bei ihrem Sterben aus: wassertriefend, wenn sie ertrunken sind, blutend, wenn sie ermordet wurden, dünn und blass, wenn sie an einer Krankheit gestorben sind.
Väinämöinen steht nur als ein Beispiel für einen Weisen, der im Reich des Todes wandert. Er war durchaus nicht der einzige von dieser Art, wie man aus dem letzten Vorwurf der Jungfrau von Manala ersehen kann:

Parempi sinun olisi
Palata omille maille;
Äijä on tänne tullehia,
Ei paljo palannehia.

Besser wäre es gewesen
Nach dem eignen Land zu gehen,
Viele sind’s die hieher kommen,
Wen’ge, die nach Hause kehren. [16. Rune]

Väinämöinen ist einer der wenigen Auserwählten von der unzählichen Menschenmenge, die lebend nach Tuonela gehen und von dort in selbstbewusstem Zustand zurückkehren, doch unter diesen wenigen gibt es mancherlei Menschen, von untersten Medizinmännern und Medien bis hin zu – wie wir sie heute nennen – höchsten Sehern und Weisen. Kaarle Krohn sagt in seinem oben genannten Buch ganz richtig – obwohl er damit keinen höheren Seher beschreibt: „Der Glaube an die Zauberer als Vermittler ist nicht nur den nordischen Völkern eigen, sondern ist in beinahe allen ursprünglichen Religionen der Erde häufig anzutreffen. Die Aufgabe des Zauberers war es, die Verbindung mit der Geistwelt herzustellen, damit man in schwierigen Situationen wisse, welcher von den Geistwesen und mit welcher Opfergebe gut zu stimmen oder zu etwas zu bewegen war. Während die Seele des gewöhnlichen Menschen nur im Schlaf oder in einem vorübergehenden Dämmerzustand die Trennung von den Grenzen der körperlichen Sinne empfinden kann, musste der Zauberer die Fähigkeit besitzen, jederzeit nach Belieben in Trance zu fallen, wobei die Seele, die den bewusstlosen Körper verlassen hatte, sich unter den Geistern frei bewegen und mit diesen sprechen konnte.“[32]
Und wenn wir fragen, warum die Weisen der alten Völker das nachtodliche Leben als düster und langweilig beschrieben, können wir auch das verstehen, wenn wir bedenken, dass das intellektuelle Seelenleben der Menschen sich parallel mit der Entwicklung der Menschheit entwickelt und dass in alten Zeiten der Schamanismus in bösem Sinne viel üblicher als heute war. Der Himmelzustand wird nämlich inhaltsreicher, farbenfroher und länger, je mehr sich das innere, intellektuelle und geistige Seelenleben entwickelt und wächst. Die Himmelzustände der heutigen zivilisierten Völker sind deshalb viel interessanter als die der Naturvölker. Hexerei und Bosheit – wie ein schlechtes Gewissen auch heute – verursachen Angst vor dem Tod, weil der Tod der Tag der Abrechnung ist, und deshalb versuchten früher viele (und manche heute noch) mit verschiedenen Beschwörungen und anderen Methoden den halbmateriellen Zwischenzustand zumindest zu verlängern, der, obwohl grau und düster, mehr dem lieben physischen Leben ähnelte als die Horrors des Tuonela. Bei den Naturvölkern blieben viele Verstorbene gleichsam zwischen Himmel und Erde hängen, indem sie mit ihrer ganzen Kraft an die halbmaterielle Gestalt festklammerten, die, obwohl sie dem physischen Körper ähnelte und aus feinster physischer Materie bestand, zum Bewusstseinsträger untauglich war und die Seele in ein lebloses und graues Nichtstun fesselte. Natürlich waren sie gezwungen, diese nach einer bestimmten Zeit abzulegen und sich der Bewusstlosigkeit nachzugeben, hinter der die gefürchtete Vergeltung der Bosheit des Erdenlebens erwartete, doch es ist natürlich, dass die weniger entwickelten Medien und Zauberer – die natürlich immer in Mehrzahl waren – von dem Leben nach dem Tod nichts anderes sahen, als dass es entweder ein Schattenleben im Reich des Kalma oder ein Zustand des Leidens in den Gefilden des Tuonela war. Und obwohl die edelsten Weisen, gleich Väinämöinen, das himmlische Leben, d.h. die größten Geheimnisse des Antero Vipunen, kannten, war es natürlich, dass sie den unentwickelten Massen davon nicht viel mehr erzählen konnten, als das es Ruhe und glücklicher Schlaf für diejenigen war, die auf Erden gut gelebt hatten. Das geht auch aus den alten Sprüchen hervor: 

Es ist gut, gut zu leben; es ist schön, mit Ehren zu sterben.
Wer gestorben ist, ist eingeschlafen.                       
Der Mensch stirbt, wie er gelebt hat.
Im Himmel ist das Kind gut verborgen.
Egal, wo man stirbt, der Weg zum Himmel wird mit einem Maß gemessen.
Der Verstorbene hat sich von seinen Pflichten befreit.
Friede für Lebende, Ruhe für Verstorbene.




[1]  Vgl.: Ein in Aunus gefundener zynisch-realistischer Vers lautet: „Lemminkäinen on lehtolapsi“ („Lemminkäinen ist uneheliches Kind“). Das Gleiche hat man z.B. über Jesus gesagt.
[2]  Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), S. 581ff.
[3]  [Martti Haavio (1899‒1973), Schüler des Kaarle Krohn, fand in den Texten über Lemminkäinen und Osiris so viele Ähnlichkeiten, dass er zu dem Schluss kam, dass die Lemminkäinen-Rune sich tatsächlich auf die Osirislegende gründet. ‒ J.M.]


[4]  Um diese Tatsache zu beschreiben pflegten die Ägypter in ihren Grabschriften vor den Namen eines jeden Verstorbenen den Götternamen      „Osiris“ zu setzen („Osiris N. N.“).
[5]  [Luft ‒ auf Finnisch ilma. ‒ M.H.]
[6]  [Im Heft Suomen Kansan wanhoja Runoja ynnä myös Nykyisempiä Lauluja II (Alte finnische Volksgedichte sowie auch Neuere Lieder) (1823) von Z. Topelius Senior wurde ein 8-strophiges Gedicht namens „Merimiehen rukous Ilmariselle” („Seemanns Gebet an Ilmarinen“) veröffentlicht. ‒ J.M.]
[7]  Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), S. 344.
[8]  Diese Themen werden eingehender z.B. in der Geheimlehre von H. P. Blavatsky behandelt.
[9]  [Wörtlich: der Greis der Luft. ‒ M.H.]
[10]  Als Erschaffer des Eisens wird „Ukko ylinen luoja, itse ilmojen Jumala“ („Ukko, er, der Schöpfer oben, Selber er, der Gott im Himmel“) genannt, der mit gutem Grund auch Ilmarinen sein könnte.
[11]   „Das Schwert der Wahrheit“.
[12]   Der Reiz (esprit) der Intelligenz.
[13]  Die Theosophen und Astrologen verstehen, warum das Eisen zum Symbol des niederen Verstandes gewählt wurde: Die Inkarnierung der Ilmarinen-Kräfte geschah erst, als die Erdkugel sich zum harten Zustand erkaltet hatte, das physische Eisen entstanden und das Tierreich kräftig geworden war. Astrologisch-okkultistisch ging es dabei um den Einfluss des Planeten Mars. Der Mars war der Planet des Eisens und zugleich der Planet der tierischen Begierde und der Kraft, wie jeder, der mit der astrologischen Symbolik vertraut ist, weiß.  Bevor die Erdkugel sich zum physischen Zustand verdichtet war, konnte sie weder den eisernen Einfluss des Mars, noch seinen starken gefühlsmäßigen Einfluss auf das tierische Bewusstsein aufnehmen. Und bevor die Vernunft von unten her erwacht war, konnten die Söhne des Denkens (die „Manasaputras“) sich nicht inkarnieren. Bei dem Einfluss der Söhne des Denkens handelte es sich, astrologisch gesehen, um den Einfluss des Merkurs. Der Mars und der Merkur sind somit die zwei Planeten, deren Verbindung mit der Erde sehr geheimnisvoll ist. Die Erde vertritt in gewisser Weise sowohl den Mars als auch den Merkur – ihre Entwicklung verläuft vom Mars zum Merkur – und in Ilmarinen, der die Menschheit der Erde vertritt, liegt sowohl der Gott des Krieges als auch der Gott der Weisheit verborgen. Mit erfinderischer psychologischer Wendung lässt die Kalevala jedoch Lemminkäinen mit dem Mars-Charakter erscheinen und präsentiert ihn als einen kriegerischen Helden. Damit will sie zeigen, dass Ilmarinen in seinem Selbst unschuldig am Bösen ist: Die Bosheit der Vernunft liegt nur darin, dass sie sich in ihrer Schwäche vom Gefühl versklaven lässt. Der eigentliche Anfang und die Ursache (causa materialis) der Selbstsucht, der Unbrüderlichkeit und der Kriegslust ist das Gefühl. Hier spiegelt sich also gewissermaßen dieselbe Ansicht wie in der alten chaldäisch-jüdischen Sündenfallgeschichte: Eeva – das Gefühl – verführt Adam – den Gedanken – zum Essen von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
[14]  [Es handelt sich um das Kloster Sangphu Neutok (gSang-phu Ne’u-thog) im mittleren Tibet, das im Jahr 1073 von Ngok Lekpei Sherab, dem indischen Schüler Atishas, gegründet wurde. ‒ J.M.]
[15]  Krohn, Kalevalan runojen historia (Die Geschichte der Kalevala-Runen), S. 178. Man könnte noch hinzufügen, dass der alte indische Bhavisyapurana über einen alten, der Sonne geheiligten Tempel erzählt, dessen Bauer Samba hieß.
[16]  [Zampu (‚dzambu) ist das gleiche wie in Sanskrit jambu, der Rosenapfelbaum. ‒ J.M.]
[17]  [Domenico Comparetti (1835‒1927), italienischer Gelehrter. Hat das Werk Der Kalewala oder die traditionelle Poesie der Finnen (1892) veröffentlicht. ‒ J.M.]
[18]  [Jens Andreas Friis (1821‒1896), norwegischer Folklorist und Philologe für samische Sprache, Professor für finnische und samische Sprache an der Universität Kristiania (Oslo). Seine Sampo-Interpretation erschien in der von Kirjallinen kuukauslehti (Literarische Monatszeitschrift) 1868 öffentlichten Artikel über den Hexentrommel der Lappen und den Sampo in der Kalevala. ‒ J.M.]
[19]  In den ersten Aufzeichnungen Lönnrots gibt es eine Stelle, die deutlich zeigt, dass der Sampo etwas Geheimnisvolles und Himmlisches und eng verwandt mit den Ilmarinen-Kräften ist. Wenn die Wirtin von Pohjola Ilmarinen fragt, ob er den Sampo schmieden kann, antwortet er: „Saatanpa takoa sammun, kirjakannen kirjutella... Äsken sampua taonki, kirjokantta kirjottelin, kun ma taivosta takoilin, ilman kantta kalkuttelin“ (Könnte schon den Sampo schmieden, den bunten Deckel könnt’ ich hämmern... Geschmiedet hab’ ich schon den Sampo, den bunten Deckel hab’ gehämmert, als ich oben auf dem Himmel, schmiedete den Lüftedeckel.). Siehe Kalevalan esityöt, I. Väinämöinen (Vorbereitungsarbeiten zur Kalevala I, Väinämöinen), S. 451—458.
[20]  [Heute wird vorwiegend die Meinung vertreten, das Sampo eine Ableitung vom Wort sammas sei, das im ingermanländischen Finnischen die Bedeutung Pfeiler und Pfahl hat. Es wird vermutet, das das Wort Sammas mit dem Sanskrit-Wort stambhah, Pfeiler, Säule, Pfahl, verwandt ist. ‒ J.M.]
[21]  In einem seiner Aspekte stellt die große Eiche (2. Rune der Kalevala) das Gleiche dar wie der Sampo: die den Menschen verkündete ursprüngliche Weisheit und die daraus resultierenden Religionen und philosophischen Systeme. Diese Systeme sind so zahlreich, dass sie für den Suchenden die Sonne und den Mond verdunkeln. Wo ist die Wahrheit?, fragt er betrübt. Erst wenn der oben bei der Feuerentstehung genannte „kleine Mann“ (die Intuition der Liebe im Herzen des Menschen) aus dem Meer hervorsteigt und die große Eiche fällt, kann man die Sonne der Wahrheit sehen.
[22]  [Juhani Aho (1861‒1921), finnischer Schriftsteller. ‒ J.M.]

 [23]  [Die Meinung des Pekka Ervast erweist sich als richtig: Das Schmieden wird in der Volksdichtung nicht genauer beschrieben. Es wird nur festgestellt: „Sillon seppo Ilmarinen päivät sampuo rakenti, yöt neitä lepyttelööpi” („Dann der Schmieder Ilmarinen, Des Tages baute an dem  Sampo, Nachts versöhnte er die Jungfrau“).  Die verschiedenen Phasen des Schmiedens stammen aus der Rune über das Schmieden der goldenen Jungfrau. ‒ J.M.]
[24]  Mehr darüber im Teil III.
[25]  [Ervast weist auf die in der Geheimlehre (The Secret Doctrine, Vol. II, „Additional Fragments from a Commentary on the Verses of Stanza“ XII, S. 424, 427‒428) veröffentlichte Erzählung hin. ‒ J.M.]
[26]  Siehe Kapitel 10, Die Lemminkäinen-Kräfte.
[27]  [Matti Waronen (1861‒1911, Folklorist, Finnischlehrer am Seminar von Rauma und Sortavala. ‒ J.M.]
[28]  Matti Waronen, Vainajainpalvelus muinaisilla suomalaisilla (Anbetung der Toten bei den alten Finnen), Helsinki 1903, S. 16.
[29]  S. 59.
[30]  Einzelheiten über diese Dinge kann man in theosophischen Büchern lesen, wie z.B.: C. W. Leadbeater, Das Leben nach dem Tod, Autor dieses Buches, Mitä on kuolema? (Was ist der Tod?), Annie Besant, Die uralte Weisheit, H. P. Blavatsky, Der Schlüssel zur Theosophie.
[31]  In der theosophischen Literatur spricht man über „akashische Aufzeichnungen“ oder „Akasha Chronic“.
[32]  Suomalaisten runojen uskonto (Die Religion der finnischen Runen), S. 12.

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